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Prolongevity: Hundert UND glücklich?

Soft Skills für nachhaltige Langlebigkeit

Dr. Gwen Bingle
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1.19.2024

Haben Sie den letzten "Prolongevity"-Artikel zur "Mittelmeer-Diät" verpasst? Hier landen Sie richtig...

Gut gealtert?

Sie sind also bereit, Ihren 100. Geburtstag bei bester Gesundheit zu erreichen?

Sie ernähren sich richtig, bewegen sich ausreichend, schlafen gut und lassen sich nicht aus der Ruhe bringen?

Nun, das ist ein guter Anfang! Aber wie Sie es wahrscheinlich wissen, ist körperliche Gesundheit nur ein Aspekt der Lebensqualität. Wahre Gesundheit beruht auf psychologischem Wohlbefinden. Wer hat nicht schon von halbwegs gesunden hochbetagten Menschen gehört, die es kaum erwarten können zu sterben?

Ein hohes Alter zu erreichen, ist sicherlich eine Leistung. Aber selbst, wenn man keine größeren gesundheitlichen Probleme hat, können psychosoziale Faktoren diese Errungenschaft trüben. Einsamkeit, fehlende Ziele, eingeschränkte Autonomie, existenzielle Müdigkeit, kognitiver Verfall, (technologische) Überforderung – um nur einige davon zu nennen – führen dazu, dass die Langlebigkeit nicht immer als Geschenk empfunden wird.

Was ist also das schwer fassbare Etwas jenseits der Gene und der aktuellen körperlichen Verfassung, das manche Hundertjährige nicht nur am Leben hält, sondern auch (einigermaßen) glücklich macht?

Herausforderungen bei der Untersuchung hochbetagter Menschen

Seltsamerweise gibt es eine Flut an wissenschaftlichen Artikeln über physiologische Langlebigkeit, aber nur relativ wenige Studien zu den „Soft Skills“ des extremen Alterns – zumindest verglichen mit populären Berichten über meist anekdotische „Hundertjährigen-Geheimnisse“.

Warum ist das so? Nun, es gibt eine Reihe praktischer Erwägungen bei der Untersuchung von Hochbetagten. Trotz der offensichtlichen Zunahme der Hundertjährigen besteht die erste Herausforderung darin, eine umfangreiche und einigermaßen repräsentative Kohorte zu rekrutieren, da Hundertjährige nicht nur gefunden, sondern auch konkret erreicht werden müssen. Die Mehrheit der Hundertjährigen wird ja betreut – sei es in der Familie oder in einer Einrichtung – was den direkten Zugang oft erschwert.

Die nächste Hürde für eine psychosoziale Studie besteht darin, Hundertjährige zu finden, denen es tatsächlich gut genug geht – körperlich, kognitiv und seelisch, um aktiv an Befragungen und Beurteilungen teilzunehmen. Parallel oder alternativ dazu können Familienmitglieder oder Betreuer als (partielle) Stellvertreter fungieren. Diese Konstellation führt zu einer Reihe unvermeidlicher Verzerrungen. Vor allem ist die Tatsache, dass Hundertjährige, die mit schlechter Gesundheit zu kämpfen haben, kaum motiviert oder überhaupt in der Lage sind, an den Befragungen teilzunehmen. Diese Verzerrung kann wiederum verschleiern, wie stark sich ein schlechter Gesundheitszustand auf ansonsten gute Bewältigungsfähigkeiten, Lebenszufriedenheit und Glück auswirkt. Nimmt man zu diesen Herausforderungen noch Variable hinzu, die das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern, der Bildung, dem wirtschaftlichen oder sozialen Status betreffen, so wird sowohl die Gestaltung als auch die Durchführung dieser Studien zu einem logistischen Albtraum.

Älterer Mann mit Kopfhörern tanzt

Kartierung der Persönlichkeiten von Hochbetagten

Umso mehr Anerkennung gebührt Forschern auf diesem Gebiet, die diese Studien in Angriff genommen haben, auch wenn die Kohorten von außen betrachtet eher bescheiden und wenig repräsentativ erscheinen mögen.

Ein beeindruckender Durchbruch und Meilenstein in dieser Hinsicht war das „Georgia Centenarian Project“ (im Folgenden GCP). Es wurde von 1988 bis 2009 unter der Leitung von Leonard W. Poon, dem damaligen, heute emeritierten Direktor des Instituts für Gerontologie an der University of Georgia, durchgeführt und hat etliche Artikel und Referenzen hervorgebracht. Im Rahmen des Quer- und Längsschnittprojekts wurden drei Kohorten von Personen im Alter von 60, 80 und 100 Jahren beobachtet, wobei die Entwicklung des Alterungsprozesses aus biologischer, psychologischer und soziologischer Sicht dargestellt wurde, um die Langlebigkeit von Hundertjährigen zu verstehen.

Während des Projekts und im Anschluss daran wurde eine Reihe von Untersuchungen eingeleitet, um herauszufinden, ob Hundertjährige bestimmte Persönlichkeitsmerkmale aufweisen, die ihr Überleben über die Gene, den Lebensstil oder die Umstände hinaus begünstigen. Eine GCP-Studie aus dem Jahr 2006, die sich auch auf frühere Studien stützte, fand heraus, dass Hundertjährige auf der Grundlage der sogenannten Big-5-Persönlichkeitstypologie einen niedrigen Neurotizismus , d. h. eine gewisse psychologische Stabilität, und einen hohen Grad an Kompetenz aufwiesen. In der Studie wurde aber auch die clusterartige Kombination dieser Eigenschaften hervorgehoben, die meistens mit hoher Extraversion sowie anderen Eigenschaften gepaart waren.

Obwohl diese Ergebnisse sicherlich interessant sind und größtenteils mit denen früherer und späterer Studien übereinstimmen, stellen sie keine große Überraschung dar. Und für Personen, die der Langlebigkeit von Hochbetagten nacheifern wollen, sind Persönlichkeitsmerkmale möglicherweise nur schwer zu beeinflussen, da sie eher durch persönliche Erfahrungen mit bestimmten Beziehungen und Umständen als durch persönliche Entscheidungen geprägt sind.

Von Persönlichkeitsmerkmalen zu psychologischen Ressourcen

Umso faszinierender ist die jüngste Studie (2023) eines spanischen Teams, das die psychologischen Ressourcen von Hundertjährigen untersuchte, da diese Ressourcen im Gegensatz zu den Persönlichkeitsmerkmalen aktiver kultiviert werden können.

Die Forscher konnten eine kleine Kohorte von 19 älteren Teilnehmern (16 Frauen und 3 Männer im Alter zwischen 100 und 107 Jahren) sowie 15 Stellvertreter (in der Regel ein Sohn oder eine Tochter) für zwei Studien gewinnen, in denen qualitative und quantitative Methoden kombiniert wurden. Sie führten teilstrukturierte Tiefeninterviews mit den Hundertjährigen durch und analysierten sie, bevor sie sie dann mit den Interviews ihrer Stellvertreter korrelierten – dies als Versuch, die Selbsteinschätzungen der älteren Teilnehmer zu verifizieren.

Dieses Konstrukt ermöglichte es den Forschern, neunzehn zentrale Ressourcen […] zu unterscheiden, die in sechs globale Konstrukte gruppiert wurden, zu denen noch Resilienz und Intelligenz hinzukamen, die in keine Kategorie eingeordnet wurden“. Diese sechs Konstrukte wurden wie folgt definiert und verfeinert:

1.         Vitalität wurde als Lebensfreude wahrgenommen, die sich in einem hohen Energieniveau, in Wachsamkeit und Präsenz widerspiegelt und durch Aktivität und Beteiligung aufrechterhalten wird.

2.         Die Freude an der Interaktion umfasste die Pflege von Freundschaften, die Wertschätzung herzlicher Bindungen sowie Altruismus.

3.         Engagement umfasste Kompetenz, Verantwortung, Ehrlichkeit und Ausdauer in allen Lebensbereichen (in der Familie, am damaligen Arbeitsplatz oder in der Gemeinschaft).

4.         Kontrolle bezog sich auf Autonomie, Beherrschung der Umwelt und Zweckmäßigkeit.

5.         Intellektuelle Motivation bedeutete, einen aktiven Verstand durch Neugier, Liebe zum Lernen und Selbstbelehrung zu kultivieren – unabhängig vom Bildungsniveau!

6.         Und Positivität hatte weniger mit Optimismus oder purem Glück zu tun als mit dem Gefühl, für die guten Dinge im Leben (trotz Schwierigkeiten) dankbar zu sein, sowie mit der Fähigkeit, sich auch an kleinen Dingen des Alltags zu erfreuen.

Resilienz, als Zusatz, war ein zentraler gemeinsamer Nenner aller Teilnehmer, der es ihnen ermöglichte, sich nach schwierigen Herausforderungen nicht nur zu erholen, sondern sogar aufzublühen. Intelligenz wurde als „transversale Fähigkeit, die andere psychologische Ressourcen durchdringt“ angesehen, die dem Einzelnen hilft, z. B. Probleme zu lösen oder sich schwierigen Herausforderungen zustellen.

Lächelnde älter Frau bietet Obst an

Jetzt für später trainieren!

Wie die Forscher in ihrer Diskussion der Ergebnisse betonen, besteht eine wesentliche Einschränkung der Studie darin, dass diese besonderen psychologischen Ressourcen möglicherweise typisch für diese Generation von Hundertjährigen sind. Sie stammt doch aus einem besonderen sozialen und historischen Kontext (u.a. Spanischer Bürgerkrieg, weitverbreiteter Analphabetismus in ländlichen Regionen, wirtschaftliche Not usw.).

Dennoch überschneiden sich diese Soft Skills mit Ressourcen, die in anderen Studien zur Langlebigkeit in anderen kulturellen Kontexten erwähnt werden. Und mit Ausnahme von Resilienz und Intelligenz können diese Soft Skills alle aktiv trainiert und über die gesamte Lebensspanne hinweg geübt werden, um bis ins hohe Alter zu bestehen. Warum also nicht heute damit beginnen – wenn Sie es nicht schon tun? Neue Hobbys entdecken, Freundschaften mit Jung und Alt schließen, eifrig lesen, sich ehrenamtlich engagieren, sich über neue Technologien auf dem Laufenden halten, gute Gewohnheiten pflegen, an gemeinschaftlichen Aktivitäten teilnehmen, Dankbarkeit und Wertschätzung üben: Das sind nur einige der Möglichkeiten, mit denen Sie ab sofort experimentieren können.

Resilienz und Intelligenz sind natürlich schwerer fassbar: Erstere baut sich im Zuge existenzieller Herausforderungen langsam auf, während letztere nur schwer zu steigern ist. Dennoch können beide erhalten und vielleicht sogar erweitert werden, wenn man sie richtig herauskitzelt und mit kleinen Herausforderungen immer wieder versorgt. Es kann sich also lohnen, gelegentlich ein gewisses Risiko einzugehen und sich aus der eigenen Komfortzone zu wagen.

Was beginnen Sie denn, die Hundertjährigen-Haltung einzuüben?

Über die Haltung hinaus, was ist denn "erfolgreiches Altern"? Erfahren Sie mehr...

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Quellen

Georgia Centenarian Study records, University Libraries, Special Collections Libraries, Online: https://sclfind.libs.uga.edu/sclfind/view?docId=ead/UA0139.xml;query=;brand=default  

University of Georgia, School of Public Health, “Leonard W. Poon named distinguished research professor”: https://publichealth.uga.edu/leonard-w-poon-named-distinguished-research-professor/

Poon LW, Jazwinski M, Green RC, Woodard JL, Martin P, Rodgers WL, Johnson MA, Hausman D, Arnold J, Davey A, Batzer MA, Markesbery WR, Gearing M, Siegler IC, Reynolds S, Dai J. "Methodological Considerations in Studying Centenarians: Lessons Learned From the Georgia Centenarian Studies". Annu Rev Gerontol Geriatr. 2007 Jan 1;27(1):231-264. Online: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3156654/

Martin P, da Rosa G, Siegler IC, Davey A, Macdonald M, Poon LW. “Georgia Centenarian Study. Personality and longevity: findings from the Georgia Centenarian Study”. Age (Dordr). 2006 Dec;28(4):343-52.  doi: 10.1007/s11357-006-9022-8. Online: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3259159/

Merino, M.D., Sánchez-Ortega, M., Elvira-Flores, E. etal. “Centenary Personality: Are There Psychological Resources that Distinguish Centenarians?”. J Happiness Stud (2023).https://doi.org/10.1007/s10902-023-00700-z. Online: https://link.springer.com/article/10.1007/s10902-023-00700-z

Abbildungen

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