Zurück zur Übersicht

Spannung, Dehnung und Bruch

Umgang mit Stress: von der Materialwissenschaft zur Biologie

Dr. Gwen Bingle
|
5.23.2025

Haben Sie Teil 1 unserer Serie „Neuromentale Gesundheit: das Tabu brechen“ verpasst? Lesen Sie hier weiter.

Der Stress, Mensch zu sein

„Jeder achte Mensch weltweit ist von neuropsychischen Störungen betroffen.“

Das war die dramatische Aussage, die wir am Ende unseres letzten Beitrags zur neuromentalen Gesundheit im Raum stehen haben lassen. Konkret bedeutet es also, dass Sie oder jemand in Ihrem Umfeld vielleicht gerade darunter leiden.

Auch wenn die meisten von uns wohl keine Psychose erleben werden, sind wir für neuromentale Probleme dennoch alle anfällig. Warum ist das so?

Weil jeder Mensch irgendwann in seinem Leben Stress und/oder Traumata erlebt – sei es einmalig oder chronisch.

Angefangen bei der Brutalität der Geburt hin zu einem mehr oder weniger langwierigen Tod sind die Lebensabschnitte des Menschen von Stress und Traumata geprägt. Wie wir es in den nächsten Folgen erfahren werden, können sowohl Stress als auch Trauma bereits im Mutterleib erworben werden. Noch beunruhigender ist jedoch, dass die epigenetische Signatur eines Traumas über mindestens drei Generationen weitergegeben werden kann. Es kann also sein, dass Sie die Spuren von etwas in sich tragen, das Ihnen gar nicht passiert ist!

Überdies ist unser Körper aufgrund seiner bloßen Existenz einem permanenten, wenn auch (meist) geringen physiologischen Stress ausgesetzt – von den passiven Auswirkungen der Schwerkraft bis hin zur aktiven Abnutzung durch unser tägliches Leben.

Tatsächlich hat das Wort „Stress“ in seiner ursprünglichen Bedeutung in der englischen Sprache einen mechanischen Bezug. Auch wenn mechanische Spannung hier nicht im Mittelpunkt steht, liefert sie uns eine gute grundlegende Metapher für den biopsychosozialen Stress, den wir untersuchen möchten.

Spannung, Dehnung und Bruch in der physikalischen Welt

Eine der Freuden des (kleinen) Kindseins besteht darin, dass man mit den unendlichen Möglichkeiten frei experimentieren kann, die die Dinglichkeit der materiellen Welt um uns herum bietet. Vom Bauen und Umwerfen von Turmblöcken über das Klettern auf Bäume hin zum Entwerfen der ersten Katapulte bekommt man allmählich ein Gefühl für die Belastungsgrenzen von Materialien.

Tatsächlich kann ein einfaches Gummiband Ihnen eine faszinierende Lektion über Spannung, Dehnung und Bruch vermitteln – auch ohne auf die physikalischen Gesetze einzugehen, die diese Phänomene bestimmen. Obwohl Gummi äußerst belastbar ist, da es nach den meisten Arten von Spannung/Dehnung seine Form wieder annimmt, reißt/bricht es, wenn man es zu stark zieht/dehnt.

Wenn Sie mit anderen Materialien Experimente zu Spannung, Dehnung und Bruch durchführen, werden Sie zwangsläufig sehr unterschiedliche Muster in der Beziehung zwischen diesen Variablen feststellen. Je nach Art und Struktur eines Materials ist es mehr oder weniger schwierig, Druck/Belastung auszuüben – denken Sie beispielsweise an Eierschalen im Vergleich zu Stahl. Auch das Dehnungsintervall variiert stark, z. B. zwischen Papier und Leder. Schließlich kann der Bruch vorhersehbar oder weniger vorhersehbar auftreten. In dieser Hinsicht bietet das Klettern auf einen Baum eine gute, wenn auch möglicherweise schmerzhafte Lektion: Ein dünnerer, aber gesunder Zweig kann Ihr Gewicht zuverlässiger tragen als ein stabiler aussehender toter Ast.

Sie werden vielleicht auch feststellen, dass Materialien mehr oder weniger gut altern, je nachdem, welchen Belastungen sie ausgesetzt waren und wie lange. Auch wichtig ist, wie das Material gepflegt wurde. Selbst elastischer Gummi kann spröde werden und zerfallen, wenn er zu viel Hitze, Licht oder Feuchtigkeit ausgesetzt ist.

Die Eigenheiten von Bio-Stress

Aber genug über Dinge, wie sieht es denn mit uns aus? Wie wirkt Stress auf Menschen?

Wenn wir einer Vielzahl von biopsychosozialen Stressoren ausgesetzt sind, funktioniert unsere menschliche Biologie nach ähnlichen Prinzipien wie die Materialien, die wir gerade beschrieben haben.

Je nach Art, Dosierung, Dauer und Kombination sowiedem aktuellen psychophysiologischen Zustand und den Ressourcen einer Person können Stressoren unterschiedliche Auswirkungen auf verschiedene Menschen zu unterschiedlichen Zeiten haben. Stress kann positiv sein, indem es Resilienz und Kreativität fördert, oder er kann zu Krankheit und Tod führen – sowie zu allen möglichen Zwischenzuständen.

Da die menschliche Biologie jedoch durch die Verflechtung und Vernetzung mehrerer komplexer Systeme gesteuert wird, hat sich die Erforschung der Auswirkungen von Stress und Trauma sowie möglicher Heilmittel als ziemlich schwierig erwiesen.

Den Weg zum Verständnis der Besonderheiten des menschlichen Stresses, wie wir ihn heute wahrnehmen, ebneten zwei zentrale historische Persönlichkeiten.

Von der Homöostase zur Kampf-oder-Flucht-Reaktion und zurück

Walter Bradford Cannon, ein amerikanischer Physiologe, war der erste Forscher, der ein grobes Stressszenario beschrieb – zunächst bei Tieren, dann als Militärarzt bei Soldaten im Ersten Weltkrieg.

Cannon beobachtete, dass Organismen, wenn sie bedroht waren, sowohl eine neuronale Reaktion als auch die Ausschüttung von Adrenalin als Reaktion auf eine physische oder psychische Notlage zeigten. Dies waren Voraussetzungen für den Eintritt in den von ihm beschriebenen „Kampf oder Flucht“ Modus.

Auch heute noch betrachten wir die endokrinen und neuralen Aspekte als zentrale Akteure des Stresses, unter dem Deckmantel der sogenannten Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (oder HHN-Achse) und der Aktivierung des autonomen Nervensystems. Wir haben auch Cannons Ausdruck „Kampf oder Flucht“ beibehalten, aber in den folgenden Jahren wurden „Erstarrung“ und „Unterwerfung“ in den Katalog der möglichen akuten Stressreaktionen aufgenommen.

Sobald der Stress abgeklungen war, stellte Cannon fest, dass Organismen dazu neigten, zu einer Art funktioneller Grundlinie zurückzukehren. Dies veranlasste ihn, eines der bahnbrechendsten Konzepte der modernen Biologie zu formulieren: die Idee der Homöostase, basierend auf dem von Claude Bernard Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten Begriff des „milieu intérieur“ [inneres Milieu]. Kurz gesagt lässt sich „Homöostase“ als das Streben eines biologischen Organismus nach Gleichgewicht durch Selbstregulierung seiner vielfältigen Systeme zum Zwecke einer optimalen Funktion definieren.

Wie Cannon selbst feststellte, war die Homöostase kein Zufallsereignis, sondern das Ergebnis einer „organisierten Selbstregulierung“ (Cannon; 1932). Dies sollte den entscheidenden Unterschied zwischen dem Stressablauf im biologischen Bereich und der viel einfacheren „Spannung-Dehnung-Bruch“-Reaktion, die wir sie im Materialbereich verdeutlicht haben, darstellen.

Wenn also eine Bedrohung auftritt, steuert der Körper in der Regel eine angemessene Reaktion, indem er Ressourcen wie den Blutfluss oder die Glukosefreisetzung umverteilt, um eine angemessene Stressreaktion zu ermöglichen. Sobald die Bedrohung jedoch vorüber ist, versucht der Körper in der Regel, die Homöostase wiederherzustellen. Lebende Organismen zeigen also eine Form der Resilienz, wenn sie mit externen Bedrohungen konfrontiert sind. Angesichts der häufigen Belastungen und Notfälle, mit denen sie im Laufe ihres Lebens zu kämpfen haben, ist dies eine gute Sache. Diese Elastizität hat jedoch ihre Grenzen.

Von vorübergehendem zu chronischem Stress

Der Vater des modernen Stressbegriffs, der kanadische Endokrinologe Hans Selye, beschäftigte sich noch intensiver mit Stress und seinen Grenzen. Als Medizinstudent in den 1930er Jahren hatte er bereits festgestellt, dass Patienten mit verschiedenen chronischen Erkrankungen eine Reihe von gemeinsamen Symptomen aufwiesen, die nicht direkt mit ihrer Erkrankung zusammenhingen. Später konnte er beobachten, dass Laborratten, die Stressoren wie Kälte, Medikamenten oder chirurgischen Verletzungen ausgesetzt waren, ähnliche Muster zeigten.

Dies veranlasste Selye, Stress als „die unspezifische Reaktion des Körpers auf jede Veränderungsanforderung zu definieren (Selye; 1976). Er analysierte die Stressphysiologie als eine Reihe von Reaktionen, die er als „allgemeines Anpassungssyndrom“ bezeichnete.

Das Syndrom wurde in drei Phasen unterteilt: In der Alarmphase war der Körper vorübergehend überfordert (Schock), bevor er seine neuroendokrinen Ressourcen mobilisierte (Antischock). In der Widerstandsphase verstärkte sich die Reaktion des Körpers durch die zusätzliche Ausschüttung von Glukokortikoiden. Wenn die Stressoren nicht nachließen, signalisierte die Erschöpfungsphase eine dauerhafte Überforderung. Dies stellte den pathologischen Zustand dar, der aus chronischem Stress resultierte.

Die Nachwelt des Stresses

Aufbauend auf Selyes Arbeit versuchten akademische Psychologen in den 1960er und 70er Jahren, die möglichen Auswirkungen verschiedener Stressoren (wie Scheidung, Krankheit oder Ruhestand) auf die psychische Gesundheit zu qualifizieren und zu quantifizieren, indem sie Instrumente wie den „Life Events and Difficulties Schedule“ oder die „Stressskala von Holmes und Rahe“ entwickelten.

Parallel dazu wurden Forschungen zu den neuroendokrinen, molekularen und immunologischen Aspekten von Stress durchgeführt. Es zeigte sich, dass Stress, insbesondere in seiner chronischen Form, eine Vielzahl von körperlichen und psychischen Gesundheitsproblemen auslösen oder verschlimmern kann, von Herz-Kreislauf-Erkrankungen über Depressionen hin zu Angststörungen.

In späteren Jahren entstanden psychosoziale und interaktionelle Stresstheorien, die das Entstehen von Stress als Folge einer Diskrepanz zwischen einer Person, ihren Ressourcen und ihrer Umwelt beschrieben. Noch subtiler erwies sich die Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung einer Person, ihrer selbst wahrgenommenen Ressourcen und ihrer eigenen Perspektive auf die Umwelt.

Stress eroberte jedoch nicht nur die akademische Welt im Sturm. Ende der 1970er Jahre hatte Stress bereits sein Elfenbeinturm-Dasein hinter sich gelassen. Er wurde zunehmend als ein breit angelegtes gesellschaftliches Phänomen wahrgenommen. Aufgrund des rasanten Tempos des modernen Lebens – ermöglicht durch exponentielle Technikentwicklung konnte Stress also jeden Menschen betreffen. Die Auswirkungen von Stress hallten in der gesamten (post-)modernen Welt der Arbeit, der Freizeit und der Beziehungen nach. Stress wurde zu einem zentralen Thema des Gesundheitswesens und zu einem Dauerbrenner in den populären Medien.

Ab diesem Zeitpunkt begann „Trauma“, sein heute allgegenwärtiges Gesicht zu zeigen, als die professionelle und öffentliche Aufmerksamkeit auf verstörte Soldatenmisshandelte Frauen, missbrauchte Kinder, sowie aller Arten Opfern rassistischer oder kultureller Unterdrückung gelenkt wurde.

Lesen Sie mehr über die „Entdeckung“ des Traumas in unserer nächsten Folge!

++++

Quellen und weiterführende Literatur

“WHO Special Initiative for Mental Health”. World Health Organization. Online: https://www.who.int/initiatives/who-special-initiative-for-mental-health

Szyf, M. (2019). “The epigenetics of perinatal stress”. Dialogues in Clinical Neuroscience, 21(4), 369–378. doi :10.31887/DCNS.2019.21.4/mszyf. Online : https://www.tandfonline.com/doi/full/10.31887/DCNS.2019.21.4/mszyf#d1e118

Cao-Lei L, Massart R, Suderman MJ, Machnes Z, Elgbeili G, Laplante DP, et al. (2014) DNA Methylation Signatures Triggered by Prenatal Maternal Stress Exposure to a Natural Disaster: Project Ice Storm. PLoS ONE 9(9): e107653. doi:10.1371/journal.pone.0107653. Online: https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0107653

Cooper, Andrea.“Can trauma be inherited through genes?”. National Geographic. June 12, 2024. Online: https://www.nationalgeographic.com/premium/article/trauma-genes-inherit-epigenetics-methylation

“Stress History: From Ancient Concepts to Modern Understanding”. Neurolaunch. August 18, 2024. Online: https://neurolaunch.com/history-of-stress/

Hutmacher F. “Putting Stress in Historical Context: Why It Is Important That Being Stressed Out Was Not a Way to Be a Person 2,000 Years Ago”. Front Psychol. 2021 Apr 20;12:539799. doi:10.3389/fpsyg.2021.539799. Online: https://www.frontiersin.org/journals/psychology/articles/10.3389/fpsyg.2021.539799/full

Bockarova, Mariana. The History of Stress. Psychology Today. December 29, 2021. Online: https://www.psychologytoday.com/us/blog/romantically-attached/202112/the-history-stress

“8.6: Elasticity, Stress, Strain, and Fracture”. LibreTexts™ PHYSICS. Online : https://phys.libretexts.org/Bookshelves/University_Physics/Physics_(Boundless)/8%3A_Static_Equilibrium_Elasticity_and_Torque/8.6%3A_Elasticity_Stress_Strain_and_Fracture

Vogel, Steven. Living in a physical world XI. To twist or bend when stressed. Journal of biosciences. (2007). 32. 643-55. 10.1007/s12038-007-0064-6. Online: https://www.researchgate.net/publication/6078465_Living_in_a_physical_world_XI_To_twist_or_bend_when_stressed

“Claude Bernard”. Wikipedia. Online: https://fr.wikipedia.org/wiki/Claude_Bernard

“Walter Bradford Cannon“. Wikipedia. Online: https://en.wikipedia.org/wiki/Walter_Bradford_Cannon

“Homeostasis”. Wikipedia. Online: https://en.wikipedia.org/wiki/Homeostasis

Cannon, Walter Bradford. The Wisdom of the Body. New York: W. W. Norton & Company, 1932, pp. 177-201.

Selye, Hans. The Stress of life. New York: McGraw-Hill, 1956.

Selye, Hans. “Stress without Distress”. Psychopathology of human adaptation. Ed. G. Serban. New York: Springer Science + Business Media, 1976, p. 137.

“Stress (biology)”. Wikipedia. Online:  https://en.wikipedia.org/wiki/Stress_(biology)

Abbildungen

Pavel Danilyuk / pexels

Pezibear / pixabay

Artur Pawlak / pixabay

Septimiu Balica / pixabay

Nataliya Vaitkevich / pexels

 

 

BEITRAG VON
Dr. Gwen Bingle
epiAge Deutschland Content & Customer Relations
Zurück zur Übersicht
© epi-age.de 2025